Weltweite Einigung der Teilchenphysiker

Heute verkündete das International Committee for Future Accelerators (ICFA) auf einer Wissenschaftskonferenz in Peking, dass bei dem geplanten Internationalen Linearcollider (ILC) die supraleitende Technologie eingesetzt werden soll. Diese Entscheidung ist für DESY und seine internationalen Partner von großer Bedeutung, da sie diese Technologie gemeinsam entwickelt und an der TESLA-Testanlage TTF (TESLA Test Facility) in Hamburg erfolgreich getestet haben. Der ILC ist das nächste große Zukunftsprojekt der Teilchenphysik. Realisierung und Standort dieser Anlage stehen noch nicht fest. Als nächstes werden die Wissenschaftler die technische Planung des Projektes so zügig wie möglich gemeinsam weiterentwickeln. DESY wird dabei eine wichtige Rolle spielen.

Materie stößt auf Antimaterie

Materie stößt auf Antimaterie
Im Linearcollider sollen Elektronen mit Höchstgeschwindigkeit auf Positronen prallen. Beide zerstrahlen zu reiner Energie, aus der neue Elementarteilchen entstehen können.

Das ICFA-Komitee, das die Teilchenphysik weltweit vertritt, legte sich damit auf eine von zwei möglichen Technologien fest, die seit 12 Jahren in Amerika, Asien und Europa erforscht werden. Sie unterscheiden sich vor allem in den Beschleunigungseinheiten, den so genannten Resonatoren. Diese bringen die Teilchen vor ihrem Zusammenstoß auf hohe Energie. Die Resonatoren können normal leitend arbeiten und werden dann bei Raumtemperatur betrieben ("warme" Version), oder supraleitend mit einer Betriebstemperatur nahe dem absoluten Nullpunkt ("kalte" Version).

"Die weltweite Teilchenphysik hat durch die Technologiefestlegung einen wichtigen Schritt in die Zukunft gemacht, bei dem das internationale Einvernehmen der eigentliche Erfolg ist", kommentierte Albrecht Wagner, der Vorsitzende des DESY-Direktoriums die Entscheidung heute auf einer Pressekonferenz des International Institute of High Energy Physics (IHEP) in Peking. "Denn ohne die weltweite Einigung auf eine der beiden Technologien wäre es undenkbar, das ILC-Projekt zu realisieren. DESY hat diese Technologiewahl natürlich mit besonderer Freude zur Kenntnis genommen. Denn was vor zehn Jahren noch eine technische Vision war, ist nun Wirklichkeit geworden. Dies ist das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit von DESY und seinen internationalen Partnern - der TESLA Collaboration, die die Leistung von supraleitenden Beschleunigungsresonatoren entscheidend verbessert hat."

Ein Linearcollider für hoch energetische Elektronen und deren Antiteilchen, die Positronen, wird einmalige Chancen eröffnen, zentrale naturwissenschaftliche Fragen des 21. Jahrhunderts zur Natur von Materie, Energie, Raum und Zeit sowie zur Dunklen Materie, Dunklen Energie und Existenz von Extra-Dimensionen zu untersuchen. Die Technologieentscheidung ermöglicht jetzt den nächsten großen Schritt auf dem Weg zu diesem Zukunftsprojekt der Teilchenforschung, das eine Ergänzung zu dem Large Hadron Collider (LHC) am CERN darstellt, der 2007 in der Nähe von Genf seinen Betrieb aufnehmen und Protonen beschleunigen wird. Unabhängig von dem späteren Standort der neuen Forschungsanlage werden Teilchenphysiker von Beschleunigerzentren und Universitätsinstituten aus Amerika, Asien und Europa ab sofort gemeinsam an der technischen Planungsstudie für den internationalen Linearcollider arbeiten.

Das Helmholtz-Zentrum DESY hatte schon vor der Technologiefestlegung beschlossen, sich auf jeden Fall an dem ILC zu beteiligen - auch wenn der Linearcollider nicht in der von DESY und seinen Partnern favorisierten supraleitenden Technologie realisiert worden wäre. "Dies fällt uns jetzt natürlich besonders leicht", so Wagner weiter, "weil bei DESY gerade die Vorbereitungen für den europäischen Röntgenlaser XFEL laufen, der auch auf der TESLA-Technologie basiert und ab 2006 in Hamburg und Schleswig-Holstein realisiert wird. Der Bau des XFEL wird viele Aspekte des ILC testen." (X steht für X-ray, englisch Röntgen, und FEL für Freie-Elekronen-Laser.)

Die beiden Technologiekonzepte für einen Elektron-Positron-Linearcollider für Kollisionsenergien im Bereich von 500 bis 1000 Milliarden Elektronenvolt (GeV) unterscheiden sich im Wesentlichen in den folgenden Punkten:
Die Betriebsfrequenz der Beschleunigungsresonatoren liegt bei der supraleitenden Version mit 1,3 Giga-Hertz (GHz) im "L-Band-Bereich", die der normal leitenden Version mit 11,4 GHz im "X-Band-Bereich".
Für die L-Band-Version wird eine Tunnellänge von bis zu 40 km veranschlagt, für X-Band von bis zu 30 km. Die X-Band-Technologie erfordert parallel zu dem eigentlichen Collider-Tunnel einen zweiten Tunnel, in dem die Sender für die Erzeugung der hochfrequenten Beschleunigungsfelder stehen.
Bei der L-Band-Technologie wird auf Grund der Supraleitung praktisch die gesamte Hochfrequenzleistung auf den Teilchenstrahl übertragen, bei X-Band etwa ein Drittel.
Im Gegensatz zur L-Band-Version hat die X-Band-Version das Potenzial für höhere Beschleunigungsfelder und damit höhere Kollisionsenergien, ohne dass der Linearcollider verlängert werden müsste.
Um die für die Elektron-Positron-Forschung erforderlichen Kollisionsraten zu erzielen, müssen die beiden Teilchenbeschleuniger im Wechselwirkungsbereich extrem genau aufgestellt und ausgerichtet werden. Hier unterscheiden sich die beiden Technologien in den Anforderungen an die Aufstellgenauigkeit: Für den L-Band-Collider liegt sie im Bereich von einem halben Millimeter, für den X-Band-Collider von einigen hundertstel Millimeter.

Das International Committee for Future Accelerators (ICFA) - das höchste Komitee in der Teilchenphysik, in dem neue Beschleunigerprojekte diskutiert und abgestimmt werden, hatte im November des vergangenen Jahres das von ihm eingesetzte Gremium ITRP (International Technology Recommendation Panel) beauftragt, eine Empfehlung für eine der beiden Technologien zu erarbeiten. Dieses mit Experten aus Amerika, Asien und Europa besetzte Gremium hatte dann innerhalb von nur acht Monaten die beiden Technologien "auf Herz und Nieren" geprüft, ihre Vor- und Nachteile gegeneinander abgewogen und schließlich die supraleitende Technologie für den künftigen Linearcollider empfohlen.

"Sowohl die "warme" X-Band-Technologie als auch die "kalte" supraleitende Technologie könnten für den internationalen Linearcollider eingesetzt werden", kommentiert der ITRP-Vorsitzende Barry Barish vom California Institute of Technology, Pasadena, USA, das Ergebnis seines Gremiums, "beide bieten ihre eigenen Vorteile. Beide repräsentieren viele Jahre Forschungs- und Entwicklungsarbeit von Teams mit höchst talentierten und engagierten Wissenschaftlern. Vor diesem Hintergrund ist es für die weltweite Gemeinschaft der Teilchenphysiker aber zu kostspielig und zeitaufwendig, beide technischen Wege bis zum Bau weiter zu verfolgen. Wir begannen gleich auf unserer ersten Sitzung, die im Januar dieses Jahres stattfand, die beiden Technologien zu begutachten. Die Entscheidung war wirklich nicht einfach", so Barish weiter, "denn beide Technologien waren weit entwickelt und wir wussten, dass die Technologiewahl bedeutende Konsequenzen für die beteiligten Forschungszentren haben würde."

George Kalmus, Rutherford Appleton Laboratory, Chilton, England, und Mitglied des ITRP zur "kalten" Technologie: "Die supraleitende Technologie benutzt L-Band (1,3 GHz) Hochfrequenz, um die Elektronen- und Positronenstrahlen in den beiden gegeneinander gerichteten Linearbeschleunigern, die den Linearcollider bilden, zu beschleunigen. Ihre besondere Eigenschaft ist die Verwendung von Beschleunigungsresonatoren aus hoch reinem Niob. Diese Resonatoren haben bei ihrer Betriebstemperatur fast keinen elektrischen Widerstand, das heißt, sie werden supraleitend. Wenn dieser Effekt einsetzt, wird die Übertragung der elektrischen Leistung von der Senderöhre zu den Elektronen- und Positronenstrahlen sehr effizient. Der vorgeschlagene Linearcollider würde einen Tunnel von bis zu 40 Kilometer Länge benötigen, in dessen Mitte die Experimentierzonen mit den kollidierenden Elektronen und Positronen liegen würden."

Das ICFA-Komitee folgte am 20. August in Peking einstimmig der Empfehlung des ITRP und wählte damit die supraleitende Technologie für den ILC aus.