DESY News: Molekulare Puzzleteile

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22.10.2025
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Molekulare Puzzleteile

Forschungsteam deckt am DESY NanoLab überraschende Bindungen der Aminosäure Cystein auf

Aminosäuren sind die Bausteine von Proteinen und damit entscheidend für viele Vorgänge in Organismen, wie auch für Prozesse zwischen Proteinen und anderen Materialien. Deshalb sind sie, und die Art und Weise, wie sie angeordnet und miteinander verbunden sind, Gegenstand aktueller Forschung. Cystein, eine der kleinsten Aminosäuren des Lebens, hat gezeigt, dass es weit mehr kann als die Wissenschaft erwartet. 

Cysteinmoleküle adsorbieren auf der Titaniumoxid-Oberfläche über verschiedene funktionelle Gruppen. Ganz rechts zeigt sich eine erstaunliche neue Eigenschaft: die Bildung von Cystein-Dimeren, die sich sogar als Dimere an die Oberfläche adsorbieren können. Grafik: DESY, Science Communication Lab
In einer neuen Studie schauten die DESY-Forscherin Heshmat Noei und Cristiana Di Valentin vom Materials Science Department & Center of Nanomedicine der Universität Mailand-Bicocca in Italien genauer hin als je zuvor. Sie analysierten jeden einzelnen Aspekt der Bindung der Aminosäure Cystein an Oxidoberflächen mit einer einzigartigen Kombination von Technologien, die im DESY NanoLab in Hamburg zur Verfügung stehen: Röntgen-Photoelektronenspektroskopie (XPS), Fourier-Transformations-Infrarot-Reflexions-Absorptionsspektroskopie (FT-IRRAS) und Rastertunnelmikroskopie (STM), ergänzt durch theoretische quantenmechanische Berechnungen in Mailand. Das Ergebnis ist die detaillierteste atomare Karte der Cysteinoxid-Bindung, die bisher erstellt wurde. Solche Informationen können neue Wege zu besseren Biosensor-Materialien eröffnen, wie z. B. medizinische Tests, gezielte Arzneimittelabgabesysteme, intelligente biomedizinische Beschichtungen und Systeme zur Verbesserung solarer Desinfektionstechnologien.

Obwohl Cystein eine der kleinsten Aminosäuren darstellt, ist es alles andere als selten. So ist es beispielsweise in vielen wichtigen Proteinen zu finden, unter anderem im Spike-Protein des COVID-19 auslösenden SARS-CoV-2-Virus. Was Cystein so besonders macht, ist seine einzigartige chemische Beschaffenheit. Es hat drei „Arme“, die als funktionelle Gruppen bekannt sind: eine Aminogruppe, eine Carboxylgruppe und, von besonderer Bedeutung, eine schwefelhaltige Thiolgruppe. „Die Art und Weise, wie sich Aminosäuren mit anderen Molekülen verbinden, hat einen direkten Einfluss auf ihre Funktionalität. Bei Cystein nahmen wir an, dass es hauptsächlich über die Gruppen mit zwei Sauerstoffatomen, die so genannten Carboxylgruppen, bindet. Frühere Studien haben jedoch gezeigt, dass es Widersprüche zwischen Experimenten und Vorhersagen gibt“, sagt DESY-NanoLab-Wissenschaftlerin und Projektleiterin Heshmat Noei. In Zusammenarbeit mit Computerwissenschaftlern der Universität Mailand-Bicocca hat das Team diese Diskrepanzen beseitigt und dabei eine überraschende Tatsache entdeckt. Sie wiesen nach, dass die Thiolgruppe und sogar die Aminogruppe direkt an die Oberfläche binden, was auf einen viel komplexeren Mechanismus hindeutet als bisher berichtet. „Anstatt nur über die Carboxylgruppe zu binden, zeigen unsere Berechnungen, dass tatsächlich alle Gruppen zu den Adsorptionsmechanismen beitragen. Dies geschieht in ganz bestimmten Konfigurationen: Jede Gruppe bindet an einer ganz bestimmten Stelle der Oxidoberfläche, ein bisschen wie ein molekulares Puzzle, bei dem jeder Arm des Cysteins nur an eine Stelle passt“, sagt Cristiana Di Valentin aus Mailand.

„Wir haben zum ersten Mal nachgewiesen, dass Cystein diese überraschende Fähigkeit besitzt, sich über seine Thiolgruppe sogar an Oxidoberflächen zu binden“, sagt Miguel Garcia Blanco, Erstautor des Artikels und Doktorand im CORAERO-Projekt. „Wir haben festgestellt, dass Cystein mit all seinen funktionellen Gruppen binden kann. Das macht es zu einem unglaublich vielseitigen Molekül für die Entwicklung von Materialien, die präzise mit biologischen Systemen zusammenarbeiten.“

NanoLab optimal genutzt

Um diese Details aufzudecken, kombinierten die Forschenden Berechnungen der Dichtefunktionaltheorie mit einer Reihe von leistungsstarken Experimenten am DESY NanoLab. „Mit Hilfe der Röntgen-Photoelektronenspektroskopie konnten wir die Zusammensetzung und den chemischen Zustand der obersten Schichten der Materialoberfläche bestimmen und beobachten, wie sich Bindungen zwischen Aminosäure und Oxid bilden und brechen. Um im Detail herauszufinden, welche Teile des Moleküls beteiligt und wie sie ausgerichtet sind, haben wir die Methode FT-IRRAS eingesetzt. Damit können Forschende verfolgen, wie Moleküle schwingen, indem sie das Infrarotlicht messen, das sie von der Oberfläche reflektieren. „Schließlich konnten wir mit der Rastertunnelmikroskopie Bilder mit erstaunlicher Auflösung aufnehmen, die zeigen, wie sich die Cysteinmoleküle auf der Oberfläche anordnen“, sagt Heshmat Noei. „Wir haben das Cystein-Oxid-System beobachtet, als ob wir es durch eine Kamera auf atomarer Ebene betrachten würden.“

All diese Erkenntnisse über die Wechselwirkung zwischen Aminosäuren und Titandioxid liefern ein Modell: Sie ermöglichen das Verständnis komplexerer und multifunktionaler Adsorptionsprozesse größerer Biomoleküle wie Proteine auf atomarer Ebene. Dies wiederum ebnet den Weg für die Entwicklung von Materialien, die auf dem neuen Verständnis der molekularen Bindung an Oberflächen beruhen – beispielsweise für intelligentere biomedizinische Beschichtungen, selbstreinigende Oberflächen, Luftreiniger, leistungsfähigere Katalysatoren und sogar für neue Umweltverfahren wie die Abwasserbehandlung und die Entfernung von Schadstoffen.

 

Originalveröffentlichung

Blanco Garcia, M., Perilli, D., Daldossi, C., Ugolotti, A., Giordano, M., Dolling, D. S., Wagstaffe, M., Kohantorabi, M., Stierle, A., Di Valentin, C., and Noei, H., Unraveling the Role of the Multifunctional Groups in the Adsorption of L-Cysteine on Rutile TiO₂(110). J. Am. Chem. Soc. 2025, 147 (—), DOI 10.1021/jacs.5c07119