DESY News: Schließen sich Top-Quarks für Bruchteile von Sekunden zu einem neuen Teilchen namens Toponium zusammen?

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10.07.2025
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Schließen sich Top-Quarks für Bruchteile von Sekunden zu einem neuen Teilchen namens Toponium zusammen?

Experimente am Large Hadron Collider beobachten seltene Verbindungen von Top-Quarks und ihren Antiteilchen

Als Forscherinnen und Forscher von DESY und der Universität Hamburg letztes Jahr etwas Neues in den Daten des CMS-Experiments an CERNs größtem Teilchenbeschleuniger, dem Large Hadron Collider, beobachteten (siehe unsere Meldung zum Thema), waren die Formulierungen noch sehr vorsichtig: man habe „in den Daten einen interessanten Effekt entdeckt, der auf etwas hinweisen könnte, das noch nie zuvor gesehen wurde.” Jetzt konnten ihre Kolleg:innen des Konkurrenz-Experiments ATLAS den gleichen Effekt beobachten, berichteten sie diese Woche auf einer wissenschaftlichen Tagung der Europäischen Physikalischen Gesellschaft. Auch an dieser Analyse waren DESY-Forschende führend beteiligt.

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Künstlerische Darstellung einer Verbindung von einem Top-Quark und seinem Antiteilchen. Bild: Julia Münstermann (“Toponium, 2025, cyanotype”)
Die Forschenden der CMS-Kollaboration von DESY und der Universität Hamburg haben einen unerwarteten Überschuss an Top-Quark-Antiquark-Paaren mit sehr niedrigen Geschwindigkeiten festgestellt. Dieser Effekt wurde erstmals in den Daten von 2016 beobachtet und hat sich mit den Analysen der Jahre 2017 und 2018 weiter verstärkt. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich Top-Quarks und ihre Antiteilchen möglicherweise zu einem kurzlebigen Paarzustand – dem sogenannten „Toponium“ – verbinden können. Bislang galt es als nahezu ausgeschlossen, dass am LHC solche Verbindungen beobachtet werden können.

Spannend ist nun, dass auch die ATLAS-Kollaboration einen ähnlichen Effekt bestätigen konnte, was der Entdeckung eine große wissenschaftliche Bedeutung verleiht. Damit wird die Beobachtung des CMS-Teams unabhängig gestützt – die Möglichkeit, dass es sich um einen Messfehler handeln könnte, ist damit praktisch ausgeschlossen.

„Lange Zeit war man davon ausgegangen, dass es unmöglich sei, quasi-gebundene Top-Quarks am LHC zu beobachten“, erklärt Katharina Behr, ATLAS-Forscherin und Leiterin einer Helmholtz-Nachwuchsforschungsgruppe bei DESY. Alexander Grohsjean, CMS-Wissenschaftler von der Universität Hamburg, ergänzt: „Die neuen experimentellen Ergebnisse widerlegen diese Annahme nun eindrucksvoll und zeigen, dass sich mit ausgeklügelten Messstrategien und der Fülle und Qualität an aufgezeichneten LHC-Daten auch solche extrem subtilen Interaktionen von Elementarteilchen beobachten lassen.“

Das Top-Quark, das schwerste aller Elementarteilchen, taucht in der Regel nur solo auf. Es wird zwar sehr häufig in den Kollisionen am LHC zusammen mit seinem Antimaterie-Gegenstück produziert. Aber während andere Quarks sich zu gebundenen Zuständen, sogenannten Hadronen, zusammenschließen können, zerfällt das Top-Quark aufgrund seiner extrem kurzen Lebensdauer in der Regel fast augenblicklich – zumeist bevor es einen gebundenen Zustand bilden kann. In seltenen Fällen wird das Top-Quark-Antiquark-Paar am LHC allerdings mit sehr geringen Geschwindigkeiten erzeugt. Das Top-Quark und sein Gegenpart aus Antimaterie befinden sich dann fast in Ruhe zueinander und können über den Austausch von Kraftteilchen namens Gluonen für die kurze Dauer ihres Lebens miteinander interagieren – ein kurzer Tanz, bevor das erste von ihnen zerfällt. 

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hatten nicht erwartet, dass die Messungen der Experimente präzise genug sein können um dieses Phänomen zu beobachten. Und trotzdem: Dass bei niedrigen Geschwindigkeiten etwas passiert, ist nun bestätigt. Neben der Top-Anti-Top-Verbindung könnten aber auch andere Effekte zu der Beobachtung beitragen, und es ist nun die Aufgabe der Experimente und der Theoretiker:innen, gemeinsam zu verstehen, was genau vor sich geht, wenn sich Top-Quark und Top-Anti-Quark zu einem kurzen Tanz verbinden. Um diese spannenden Effekte zu untersuchen, müssen modernste Vorhersagen zur starken Wechselwirkung zum Einsatz kommen. Sie befassen sich damit, wie die Top-Quarks miteinander über Gluonen wechselwirken. An diesen Berechnungen sind jetzt schon Hamburger Forschende vom Institut für Theoretische Physik und DESY federführend beteiligt.

„Wir wollen jetzt eine möglichst vollumfängliche Beschreibung des Phänomens liefern”, so CMS-Wissenschaftler Christian Schwanenberger von DESY und der Universität Hamburg. „Wir setzen sowohl auf neue Rechnungen als auch auf die neuen Daten vom LHC, von denen es mit der derzeitigen Laufzeit des Beschleunigers etwa dreimal so viel geben wird. Dann werden wir die Wechselwirkungen zwischen Top-Quark und Top-Antiquark gemeinsam mit ATLAS noch viel genauer studieren.”

Der nun von beiden Experimenten entdeckte Überschuss bedeutet einen großen Schritt in dem Bestreben, die grundlegende Struktur der uns umgebenden Materie zu entschlüsseln.

 

Originalveröffentlichung

ATLAS Collaboration 2025 (ATLAS-CONF-2025-008): “Observation of a cross-section enhancement near the ttbar production threshold in √s=13 TeV pp collisions with the ATLAS detector

CMS Collaboration 2024 (arXiv:2503.22382 [hep-ex], CMS-TOP-24-007): "Observation of a pseudoscalar excess at the top quark pair production threshold" (Accepted for publication in Reports on Progress in Physics)