DESY News: 3D-Brille aufgesetzt: Digitaler Zwilling beschleunigt Entwicklung besserer Biofasern

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25.03.2022
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3D-Brille aufgesetzt: Digitaler Zwilling beschleunigt Entwicklung besserer Biofasern

Simulation der Produktion ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum wirtschaftlichen Einsatz

Ein Team aus Forschern der Königlich Technischer Hochschule (KTH) Stockholm und von DESY hat einen sogenannten digitalen Zwilling für Röntgenexperimente entwickelt und für die Untersuchung des Herstellungsprozesses neuartiger Biofasern eingesetzt. Mit dem digitalen Zwilling lassen sich die Experimentierdaten wesentlich besser interpretieren und so die Qualität der produzierten Faser erhöhen. Bisher konnte das Spinnen von Fäden aus Zellulose-Nanofibrillen (CNF) mit Röntgenlicht experimentell beobachtet und analysiert werden. Der digitale Zwilling ermöglicht es, aus der zweidimensionalen Beobachtung ein dreidimensionales Modell zu machen. Die Ergebnisse seiner Studie hat das Team jetzt im Fachblatt „ACS Nano veröffentlicht.

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Künstlerische Darstellung der Fibrillen im Strömungskanal (die Fibrillen sind stark vergrößert dargestellt) bei der Herstellung einer Nanofaser. Die zentrale Strömung mit den Fibrillen wird durch zwei seitliche Strömungen fokussiert, die eine bessere Nanostruktur der Faser erzeugen. Bild: DESY, Eberhard Reimann
Zellulose ist ein nachwachsender Rohstoff; sie kommt in großer Vielfalt in der Natur vor und ist macht dort die Stabilität von Holz und anderen Pflanzen aus. Nanofasern aus Zellulose sind daher auch ein vielversprechender Kandidat für regenerative Bau- und Konstruktionsmaterialien. Winzige Fasern aus Zellulose lassen sich zu hochfesten Fäden verbinden, stärker als Stahl oder Seide, und durch Anreicherung mit Additiven sogar funktionalisieren, beispielsweise zu Stromleitern. Hergestellt werden diese Fäden, indem die Nanofasern in Wasser gelöst durch einen sehr dünnen Kanal gepresst werden. Durch seitliche Zuflüsse in diesem Kanal fließt weiteres Wasser ein, presst diesen Strom der Nanofasern zusammen und beschleunigt ihn. Diese sogenannte hydrodynamische Fokussierung sorgt dafür, dass sich die Nanofasern in der gewünschten Orientierung ausrichten und sich von selbst zu einem eng gepackten Faden zusammenlagern. Die Nanofasern haften dabei ganz ohne Klebstoff oder irgendeine andere Zutat zusammen.

Mit DESYs Hochleistungs-Röntgenquelle PETRA III konnten schwedische und deutsche Forschende diese Fasern während ihrer Produktion hochaufgelöst und live beobachten und so den Produktionsprozess und die Qualität weiterentwickeln. Die Forschungsgruppe stellte jedoch fest, dass der Ort und die Art des Zusammenklebens sehr stark von der Länge der Zellulosefibrillen abhängen, die von einigen zig bis zu einigen hundert Nanometern variiert. Während die Experimente die Orientierung der Nanofasern im Faden sehr genau bestimmen konnten, war die Länge der Fasern mit den Experimentiertechniken nicht vollständig aufzulösen.

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Der Strömungskanal an der Messstation P03 ist auf einem Stahlblock montiert und die Ströme werden durch weiße Schläuche mit grünen Anschlüssen geleitet. Ein Röntgenstrahl von PETRA III durchstrahlt den Kanal (von rechts oben nach links unten im Bild). Das dabei entstehende Streubild wird zur Bestimmung der Nanostruktur der Fibrillen im Kanal genutzt. Foto: KTH, Tomas Rosén
Zur Lösung des Problems schufen die Forscher jetzt einen digitalen Zwilling dieses Vorgangs: ein komplexes Simulationsmodell, das den Herstellungs- und Untersuchungsprozess vollständig digital abbildet. „Sechs Jahre haben wir an diesem Digitalen Zwilling gearbeitet“, sagt Fredrik Lundell (Wallenberg Holzzentrum der KTH). „Durch Simulation der Strömung im Kanal und Berücksichtigung der Verteilung der Fibrillenlängen können wir nun detailliert vorhersagen, wo und in welcher Kanalgeometrie die optimale Orientierung für eine besonders feste Faser erreicht wird.“

Mit Hilfe der Röntgenexperimente an der PETRA III-Strahlführung P03 wurde das Digitalmodell stetig verbessert, andererseits bekamen die Forschenden auch Informationen aus dem Modell, um die Daten der Streuexperimente gezielter auszuwerten. Der Digitale Zwilling liefert damit letztendlich eine tomografische Beschreibung der Prozesse in der Faser, die mit Hilfe der Röntgensteu-Experimente zweidimensional untersucht werden kann.

„Die Übereinstimmung von Modell und realen Messungen ist perfekt und gibt uns ganz neue Einblicke in den Produktionsprozess der Nanofasern“, erklärt Daniel Söderberg vom Institut für Faser- und Polymertechnologie der KTH. „Wenn wir mit den bisherigen experimentellen Beobachtungen die Noten für die Entstehung der Fasern hatten, können wir mit dem Digitalen Zwilling die Symphonie hören.“

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Im Vordergrund sind Pumpen zu sehen, die für den Fluss im Kanal sorgen. Im Hintergrund: Der Röntgenstrahl durchquert von rechts den Strömungskanal. Foto: KTH, Tomas Rosén
Der digitale Zwilling enthüllt, wie sich längere und kürzere Fibrillen im Faden ausrichten und liefert so das fehlende Glied, um robuste industrielle Herstellungsverfahren zu entwickeln, die für eine Massenproduktion von Hochleistungs-CNF-Filamenten erforderlich ist.

Weiteren realen Einblick in solche Prozesse kann das 3D-Röngtenmikroskop PETRA IV geben, das sich zurzeit bei DESY in Planung befindet. Die Auflösung von PETRA IV wird etwa hundertmal besser sein als die von PETRA III, so dass die Forschenden dann auch in der Lage sein werden, die gesamte Produktion und die Eigenschaften solcher wirtschaftlich hochinteressanten Stoffe unter die Lupe zu nehmen. Daher hat ein Konsortium von Forschenden unter Leitung der KTH Stockholm bereits den Vorschlag unterbreitet, eine Messstation für die Abbildung fluider Prozesse an PETRA IV in Kombination mit einem Digitalen Zwilling aufzubauen. DESY-Forscher Stephan Roth, der die PETRA-Strahlführung P03 leitet und auch die entsprechende Messstation für PETRA IV mit plant, sagt: „Der hier entwickelte Digitale Zwilling ist von immenser Bedeutung für die Prozesstechnologie in Verbindung mit schnellen Untersuchungen mit Synchrotronstrahlung - insbesondere für moderne Spinn- und in Zukunft auch für industrielle Beschichtungstechnologien, wie wir sie an PETRA IV planen.“

Originalveröffentlichung
Nanofibril Alignment during Assembly Revealed by an X-ray Scattering-Based Digital Twin; V. Krishne Gowda, Tomas Rosén, Stephan V. Roth, L. Daniel Söderberg, and Fredrik Lundell; ACS Nano 2022, 16, 2, 2120–2132 DOI: 10.1021/acsnano.1c07769