DESY News: Bewegte Ladungen – Strahlung lässt Moleküle tanzen

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13.01.2022
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Bewegte Ladungen – Strahlung lässt Moleküle tanzen

Ein internationales Team unter Leitung von Markus Gühr von der Universität Potsdam hat bei DESY Ladungsbewegungen in lichtangeregten Molekülen von Thiouracil beobachtet, einer modifizierten Nukleobase. Diese Klasse von Molekülen hat eine Vielzahl von medizinischen Anwendungen, einschließlich möglicher neuer Krebstherapien. Die Ergebnisse der an DESYs Freie-Elektronen-Laser FLASH durchgeführten Experimente sind in der Fachzeitschrift „Nature Communications publiziert“. Sie eröffnen neue Möglichkeiten, die Ladungsflüsse innerhalb der Moleküllandschaft zu kartieren.

Das Bild zeigt die durch ultraviolette Anregung induzierte Ladungsdichte (rot bedeutet weniger Elektronen, blau bedeutet mehr) im Molekül 2-Thiouracil. Das X auf der Struktur markiert das Schwefelatom, an dem die Autoren den Ladungsfluss mit zeitaufgelöster Röntgenphotoelektronenspektroskopie untersucht haben. Das Molekül springt in den ersten 100 Femtosekunden zwischen den beiden angegebenen Elektronenkonfigurationen. Bild: Universität Potsdam, David Picconi/Markus Gühr Linkhttps://www.uni-potsdam.de/de/nachrichten/detail/2022-01-12-bewegte-ladungen-strahlung-laesst-molekuele-tanzen
Nahezu alle Energiequellen sind auf die Sonne als primäre Quelle angewiesen. Die Natur ist reich an effizienten und ökonomischen molekularen Maschinen, die Lichtenergie in veränderte chemische Bindungen, elektrischen Strom oder Wärme umwandeln können. Auf mikroskopischer Ebene erfolgt die Umwandlung des absorbierten Lichts in andere Energieformen durch einen elektrischen Ladungsfluss in den Molekülen.

Das hier untersuchte Molekül Thiouracil (C4H4N2OS) gehört zur Klasse der Thiobasen. Diese Moleküle werden aus den natürlich vorkommenden Nukleobasen – welche genetische Informationen zu DNA und RNA kodieren – gewonnen, indem ein oder mehrere Sauerstoffatome durch Schwefel ersetzt werden. Thiobasen haben eine Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten, wie beispielsweise Medikationen, die das Immunsystem nach Organtransplantationen herunterfahren, und möglicherweise auch die photoinduzierte Krebstherapie zur Zerstörung von Tumorzellen. Reguläre Nukleobasen leiten die durch UV-Anregung erhaltene Energie schnell ab und vermeiden so potenzielle Mutationen. Werden Thiobasen mit UV-Licht bestrahlt, gehen sie stattdessen in angeregte Zustände über, was zur Bildung einer reaktiven Form von Sauerstoff in der Nähe des Moleküls führt.

Das Team nutzte die Empfindlichkeit der Röntgen-Photoelektronen-Spektroskopie für bestimmte Atome innerhalb eines Moleküls, um lichtangeregtes Thiouracil auf einer Femtosekunden-Zeitskala (eine Femtosekunde ist eine billiardstel Sekunde) zu untersuchen. Ein erster ultravioletter (UV) Lichtpuls regte Thiouracil an und löste eine ultraschnelle Ladungsbewegung innerhalb des Moleküls aus. Ein zweiter verzögerter Röntgenpuls ionisierte bestimmte Elektronen, die sich stark am Schwefelatom des Moleküls konzentrierten. Die Autoren beobachteten zeitabhängige Veränderungen in der Energie dieser Photoelektronen, die direkt den Ladungsfluss vom und zum Schwefelatom widerspiegeln.

David Picconi, theoretischer Chemiker und einer der korrespondierenden Autoren der Studie, fand den direkten Zusammenhang zwischen der Photoelektronenenergie und den Ladungsänderungen: „Wir haben modernste quantenchemische Berechnungen auf viele verschiedene molekulare Strukturen angewandt“, sagt er, „und dabei festgestellt, dass die UV-Anregung die Elektronendichte in der Nähe des Schwefelatoms verringert und durchweg zu einer niedrigeren Energie der durch die Röntgenstrahlen ausgestoßenen Photoelektronen führt. Das ist verständlich, denn bei geringerer Elektronendichte ist die Coulomb-Anziehung des Schwefelkerns stärker, ein höherer Anteil der Röntgenenergie wird für die Ionisation benötigt, und dem Photoelektron bleibt weniger Energie.“ Dieser Zusammenhang zwischen lokaler Ladung und Photoelektronenspektroskopie wurde bereits vom schwedischen Nobelpreisträger Kai Siegbahn für Moleküle ohne Lichtanregung formuliert. Die Autoren wenden nun genau dieselben Konzepte auf den lichtangeregten Zustand von Molekülen an.

Die experimentelle Studie erhellt den mikroskopischen Mechanismus, warum Thiobasen in potenziell schädliche Zustände übergehen. Dieser Prozess erwies sich als ziemlich komplex. Dennis Mayer, einer der Erstautoren der Publikation, bemerkt: „Unser erster Blick auf das Photoelektronensignal während des Experiments offenbarte keine besonders detaillierten Merkmale. Freie-Elektronen-Laser weisen viele Fluktuationen auf, aber glücklicherweise gibt es auch Diagnosemöglichkeiten, um diese zu messen. Die spätere Korrektur ergab schöne zeitabhängige Oszillationen in der kinetischen Energie der Photoelektronen.“ Die oszillierende Photoelektronenenergie und damit die oszillierende Ladung am Schwefelatom deutet darauf hin, dass das Molekül zwischen verschiedenen elektronischen Konfigurationen hin und her springt, bevor es sich schließlich im angeregten Zustand einpendelt.

Das Team hatte an der Freie-Elektronen-Laserstrecke FLASH 2 bei DESY ein neues Instrument für diese Art von Forschung aufgebaut. Möglich wurde dies durch Drittmittel des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Die Arbeiten an FLASH wurden von einem internationalen Zusammenschluss von Wissenschaftlern aus Potsdam, von der Universität Hamburg und dem Center for Free-Electron Laser Science bei DESY, dem Heidelberger Institut für Theoretische Studien, der Universität Göteborg, dem europäischen Röntgenlaser European XFEL, dem US-Beschleunigerzentrum SLAC National Accelerator Laboratory und DESY durchgeführt. Markus Gühr freut sich auf weitere spannende Experimente: „Bisher haben wir die Ladungsdynamik nur aus dem Blickwinkel eines bestimmten Atoms im Molekül betrachtet. Wenn wir dies auf verschiedene Atome ausdehnen, können wir eine vollständige dynamische Karte des Ladungsflusses innerhalb der Moleküllandschaft erstellen.“

 

Originalveröffentlichung:
Following excited-state chemical shifts in molecular ultrafast x-ray photoelectron spectroscopy; Mayer, D., Lever, F., Picconi, D. et al.; „Nature Communications“, 2022; DOI: 10.1038/s41467-021-27908-y

 

Quelle: Universität Potsdam