05.05.2011

Ohne Widerstand

Vor 100 Jahren wurde die Supraleitung entdeckt

Es sind diese elektrisierenden Momente, für die Wissenschaftler leben: Man geht ins Labor, führt seine Messreihen durch, und plötzlich passiert etwas völlig unerwartetes – ein winziges Detail stimmt nicht. Die Forschersinne schärfen sich, die Neugier ist geweckt. Man wiederholt seine Messungen, prüft nach, ob auch wirklich alles stimmt, aber das Unerwartete bestätigt sich.
So muss es dem niederländischen Physiker Heike Kamerlingh Onnes ergangen sein, als er am 8. April 1911 einen Effekt beobachtete, der ihn berühmt und die Gesellschaft um eine Technologie reicher machte: die Supraleitung. Eigentlich wollte der Wissenschaftler die Eigenschaften von verflüssigten Gasen beschreiben. Dazu drang er in den Bereich sehr niedriger Temperaturen vor. Bei der Verflüssigung von Sauerstoff und Stickstoff erzeugte er Temperaturen bis minus 180 Grad; im Jahr 1908 gelang es ihm erstmals, flüssiges Helium zu erzeugen – ein Kältebad von minus 269 Grad, vier Grad Celsius über dem absoluten Nullpunkt. Diese neue Möglichkeit wollte Kamerlingh Onnes am 8. April 1911 nutzen, um die elektrische Leitfähigkeit von Metallen bei niedrigen Temperaturen zu bestimmen. Er kühlte eine Probe reinen Quecksilbers immer weiter ab und bestimmte deren Widerstand. Bei 4,19 Kelvin geschah dann das Überraschende: der elektrische Widerstand verschwand schlagartig! Bald darauf fand Kamerlingh Onnes das Phänomen bei weiteren Metallen, aber nicht bei allen. Er hatte den Effekt der Supraleitung entdeckt, von dem er schnell vermutete, dass man ihn nur mit Hilfe der Quantenmechanik beschreiben könnte.
Lange wurde das Phänomen als exotisch und nutzlos betrachtet, doch heute hat es eine breite Palette von Anwendungen. So kennen Wissenschaftler supraleitende Metalle, Keramiken und sogar organische Stoffe, in denen hohe Ströme völlig verlustfrei transportiert werden können.
Die Supraleitung hat Einzug in die Medizin gehalten und wird beispielsweise in Kernspintomografen eingesetzt, um ultrastarke Magnetfelder für die Diagnose zu erzeugen. Auch als elektrische Leitungen finden Supraleiter in verschiedenen Anlagen Anwendung. Inzwischen wurden Materialien gefunden, bei denen die Sprungtemperatur, bei der die Supraleitung einsetzt, deutlich höher liegt. Technisch wirklich nutzbar sind zurzeit allerdings nur Tieftemperatursupraleiter, weil sie mechanisch formbar sind, aber auch die Keramiken, die bei höheren Temperaturen widerstandslos werden, werden sich wohl bald zu Drähten formen lassen.
Auch DESY hat eine lange Tradition in der Entwicklung von supraleitenden Technologien, natürlich insbesondere für Beschleuniger. Bei HERA waren es die Magneten des Protonenrings, deren starke Felder es ermöglichten, Protonen bei fast einem Tera-Elektronenvolt Energie auf der Kreisbahn von 6,3 Kilometern Umfang zu halten. In HERA wurden auch schon testweise erste supraleitende Resonatoren zur Elektronenbeschleunigung eingesetzt. Die supraleitende Technologie der Beschleunigung fand dann mit den TESLA-Resonatoren ihre Vollendung: neunzellige Resonatoren aus hochreinem Niob, die sowohl in FLASH als auch im European XFEL und dem ILC die Elektronen auf Trab bringen, übertragen mit einer unerreichten Effizienz die eingesetzte Energie auf die fliegenden Teilchen. Selbst der riesige Aufwand, die supraleitenden Komponenten in ausgeklügelte Thermoskannen, so genannte Kryostaten, einzupacken und sie ständig mit flüssigem Helium auf minus 271 Grad abzukühlen, lohnt sich für den verlustfreien Stromtransport.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden reihenweise Entdeckungen gemacht, die für die heutige Wissenschaft – und besonders für DESY – große Bedeutung haben: 1911 wurde nicht nur die Supraleitung entdeckt, sondern der neuseeländischen Physiker Ernest Rutherford hat auch die Grundlage für Streuexperimente geschaffen, wie sie heute in der Teilchenphysik genutzt werden.
Seine Streuversuche, in denen er Teilchen der radioaktiven Alphastrahlung auf eine Goldfolie schoss, führten zu einem revolutionär neuen Modell des Atoms, in dem ein sehr kleiner schwerer Kern von einer fast leeren Hülle umgeben ist. HERA brachte diese Experimentiermethode zur Vollendung: Mit den Kollisionen von Elektronen und Protonen wurde mit etwa 10 000-fach besserer Auflösung als bei Rutherford das genaueste Bild des Aufbaus des Protons erstellt.
Und schließlich führte im Jahr 1912 der Wissenschaftler Max von Laue mit Kollegen das erste Röntgenbeugungsexperiment durch – die Grundlage für die heutige Forschung mit Photonen.
Und wer weiß: Vielleicht wird das, was heute entdeckt und von manchen voreilig als faszinierender, aber nutzloser Effekt abgetan wird, in 100 Jahren eine wichtige Grundlage der Forschung sein. (tz)

Hier wurde Wissenschaftsgeschichte geschrieben: Kamerlingh Onnes Labor an der Universität Leiden (Foto: AIP Emilio Segre Visual Archives, Brittle Books Collection)