14.12.2012

DESY-Röntgenquelle PETRA III filmt Fließverhalten von Flüssigkristallen

Einzigartige Messstation liefert Einblick in innere Struktur

Mit einem weltweit einzigartigen Experimentaufbau haben Forscher an DESYs Röntgenquelle PETRA III das Fließverhalten von Flüssigkristallen gefilmt. Die neue Methode zeigt unter anderem, wie sich der innere Aufbau einer Flüssigkristall-Probe ändert. Das deutsch-niederländische Team präsentiert seine Beobachtungen im Fachjournal "Physical Review Letters".

Röntgenstreubild eines Flüssigkristallpräparats unter der oszillierenden Scherspannung. (Photo: Pavlik Lettinga)

Die Information über das Fließverhalten ist wichtig für eine Vielzahl von Systemen – sei es in Blutgefäßen oder auch in Zementmixern. Die Viskosität und Elastizität von Flüssigkeiten wird beispielsweise in der Nahrungsmittel-, Kosmetik- und Ölindustrie regelmäßig untersucht. Allerdings werden dabei in der Regel lediglich die Fließeigenschaften selbst gemessen ohne detaillierten Einblick in die innere Struktur der Probe.

Wissenschaftler vom Forschungszentrum Jülich, der Universität Utrecht und von DESY haben daher eine neue Methode zur Untersuchung des Fließverhaltens entwickelt. Das deutsch-niederländische Forscherteam setzte ein Flüssigkristall-Präparat durch Hin- und Herdrehen unter mechanische Spannung und beobachtete dabei seine innere Struktur mit dem hellen Röntgenstrahl von DESYs Forschungslichtquelle PETRA III. Durch die mechanische Spannung verformt sich entweder die Probe, oder ihre verschiedenen Schichten gleiten übereinander wie in einer Flüssigkeit - je nach Materialeigenschaften. Mit dem Röntgenlicht schossen die Wissenschaftler zehn Aufnahmen pro Sekunde und „filmten“ so das Strukturverhalten der Probe. Die Untersuchung zeigt, warum das Material fließt oder elastisch wird.

Ein Rheometer mit Röntgenblick

Normalerweise dienen zur Untersuchung der Fließeigenschaften von Materialien sogenannte Rheometer. Diese Geräte verfolgen die Bewegungen in einer Probe als Folge einer von außen einwirkenden Kraft. Firmen benutzen Rheometer beispielsweise, um dafür zu sorgen, dass sich Joghurt auf der Zunge oder Körpermilch auf der Haut angenehm anfühlen. "Ein Rheometer alleine gibt aber keinerlei Information über die innere Struktur einer Probe", sagt DESY-Forscher Bernd Struth, einer der Autoren der wissenschaftliche Studie. "Es wäre überaus interessant für uns, im Detail zu verstehen, wie das Fließverhalten von der Mikrostruktur im Innern der Substanz abhängt, und wie wir dadurch die Fließeigenschaften steuern können."

Zu diesem Zweck hat Struth - zusammen mit der Firma Thermo Fisher Scientific Inc. - ein neuartiges Rheometer entwickelt, das an starken Röntgenlichtquellen wie PETRA III eingesetzt werden kann. Eine Besonderheit ist ein eigens entwickeltes optisches Element, mit dem der waagerechte Röntgenstrahl senkrecht durch die Probe umgelenkt wird. "Dieser Messplatz ist einzigartig, und wir können damit ganz neue Forschung betreiben", betont Struth. "Wir können untersuchen, wie eine Probe fließt, und gleichzeitig mit dem Röntgenstrahl die Anordnung der Moleküle sehen."

An der PETRA-Messstation P10 haben die Wissenschaftler ihre Probe zwischen zwei horizontalen Platten deponiert. Eine der Platten ist feststehend, während die andere sich hin- und herdreht. Dadurch wird eine mechanische Belastung verursacht, eine sogenannte Scherspannung. Die von außen einwirkende Kraft verformt die Probe, und die Forscher untersuchen, ob sie eher wie eine Flüssigkeit oder wie eine Sprungfeder reagiert. Gleichzeitig durchdringt ein starker Röntgenstrahl den Versuchsaufbau. Damit können die Wissenschaftler die Ausrichtung der Teilchen in der Probe im Verlauf der Zeit messen.

Unerwartetes Fließverhalten von Flüssigkristallen

Die Wissenschaftler interessiert besonders, auf welche Weise man bei Flüssigkristallen unterschiedliches Fließverhalten herbeiführen kann. "Bohrschlamm zum Beispiel, der beim Pumpen von Öl durch Bohrlöcher verwendet wird, kann entweder flüssig oder fest sein", erklärt Hauptautor Pavlik Lettinga vom Forschungszentrum Jülich. "Wir haben das Mineral Gibbsit untersucht, weil es ein gutes Modell für Substanzen wie Bohrschlamm ist."

Im Ruhezustand sind die rund 250 Nanometer (millionstel Millimeter) großen Gibbsit-Plättchen mit ihren flachen Oberflächen parallel zu den Wänden ihres Behälters angeordnet. So können die Plättchen in Schichten leicht übereinander gleiten wie Flüssigkeiten, wobei sie eine Art Kristallstruktur beibehalten – daher der Name Flüssigkristall. Was passiert aber, wenn die Plättchen durch Anlegen einer Scherspannung diese komfortable Position einbüßen: Verhalten sie sich wie eine Flüssigkeit, oder werden sie elastisch wie ein Festkörper?

Die Wissenschaftler beobachteten, dass die Reaktion der Plättchenstruktur auf die Scherspannung von deren Amplitude abhängt, also von der Stärke der Verformung. Ist die Amplitude groß, richten sich die Plättchen aus ihrer ursprünglichen Position auf und klappen um wie eine Spielkarte. Das geschieht zweimal pro Schwingungszyklus, jeweils bei der Strömungsumkehr, also wenn die drehende Platte die Richtung wechselt. An diesem Punkt ist die Probe elastisch, während die Plättchen im Zeitraum zwischen dem Umklappen aufeinander gleiten wie eine Flüssigkeit.

Bei kleinen Amplituden dagegen richten sich die Plättchen lediglich mit einem gewissen Neigungswinkel auf, ohne umzuklappen. Bei Strömungsumkehr kommen die Plättchen in ihre Ausgangsposition zurück, als ob die Spielkarte wieder zurückgelegt würde. Bei kleinen Amplituden reagiert die Probe daher wie ein Festkörper und ist während des gesamten Schwingungszyklus elastisch.

"Mit unserer Methode können wir genau bestimmen, warum eine Materialprobe fließt oder elastisch wird", betont Lettinga. "Ähnliche Übergänge im Fließverhalten könnten auch bei anderen viskoelastischen Substanzen auftreten. Sie wurden aber wahrscheinlich bisher nicht bemerkt, weil die Proben nicht im Röntgenlicht betrachtet wurden."

Die Vorgehensweise für Materialflussstudien könnte sich künftig ändern. "Wir können jetzt sehen, wie sich der Übergang vom elastischen zum viskosen Verhalten aus der Mikrostruktur einer Probe ergibt“, erklärt Struth. „Theoretiker können mit unseren Daten als Basis Modelle dieser Übergänge entwickeln." Genaue Modelle wären ein wichtiger Schritt um die Fließeigenschaften verschiedener Materialien vorauszubestimmen und maßschneidern zu können.

Eines der bekanntesten Anwendungsgebiete für Flüssigkristalle sind LC-Displays (LCD = liquid crystal display). Hier werden die optischen Eigenschaften von Flüssigkristallen elektrisch gesteuert. Im Experiment wurden die Flüssigkristall-Fließeigenschaften jedoch mechanisch gesteuert. Hier ergibt sich die interessante Frage, ob dieser „mechanische Schalter“ auch bei LCD angewendet werden kann.

Originalveröffentlichung
The non-linear behavior of nematic platelet dispersions in shear flow; M.P. Lettinga, P. Holmqvist, P. Ballesta, S. Rogers, D. Kleshchanok, and B. Struth; "Physical Review Letters", 2012; DOI: 10.1103/PhysRevLett.109.246001

Pavlik Lettinga and Bernd Struth sind Mitorganisatoren eines “In Situ Rheology” Workshops, der bei DESY am 24. und 25. Januar 2013 stattfindet: https://indico.desy.de/event/7005

Video der wechselnden Röntgen-Streumuster der Flüssigkristallprobe während der oszillierenden Scherspannung. Jedesmal, wenn die Gibbsit-Plättchen umklappen, beobachten die Forscher einen starken Ausschlag im Streumuster. Bei großen Amplituden geschieht dies genau zweimal pro Schwingungszyklus - jeweils wenn die Scherspannung die Richtung wechselt: http://prl.aps.org/epaps/PRL/v109/i24/e246001/fp04Str12p8.avi