Partikel stellen sich quer

Überraschende Orientierung in Kapillaren

 

Streubilder, die bei Mikroröntgenexperimenten entstanden sind: A) parallele Orientierung zur Fließrichtung vor der Verjüngung, B) senkrechte Orientierung zur Fließrichtung nach der Verjüngung in der Kapillare. Bilder: Lehrstuhl für Physikalische Chemie I, Universität Bayreuth; zur Veröffentlichung frei.

Hamburg, 9. April 2013.Wenn kleine Partikel durch dünne Kapillaren hindurchströmen, zeigen sie ein äußerst ungewöhnliches Orientierungsverhalten: Sie stellen sich quer. Dies hat jetzt eine Forschergruppe um Prof. Dr. Stephan Förster und Prof. Dr. Walter Zimmermann von der Universität Bayreuth an DESYs Röntgenquellen DORIS III und PETRA III entdeckt. In den "Proceedings" der US-Akademie der Wissenschaften (PNAS) berichten die Wissenschaftler der Universitäten Bayreuth und Nijmegen sowie von DESY und dem Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation über ihre Erkenntnisse. Für Spinnprozesse, die der Herstellung künstlicher Fasern dienen, oder für das Verständnis von Gefäßverengungen ist die Entdeckung von zentraler Bedeutung.

Stäbchen- oder plättchenförmige Partikel, die durch dünne Kapillaren hindurchströmen, orientieren sich normalerweise parallel zur Strömungsrichtung. Falls eine Kapillare eine Verengung aufweist, ändert sich diese Orientierung nicht, bis die Partikel die engste Stelle erreicht haben. Doch sobald sich die Kapillare wieder erweitert, orientieren sich die Partikel senkrecht zur Strömungsrichtung und stellen sich quer. Die Wissenschaftler haben dieses überraschende Phänomen nicht nur entdeckt, sondern auch bereits eine Erklärung dafür gefunden. Wie sie aufgrund theoretischer Berechnungen zeigen konnten, treten in dem sich erweiternden Kapillarabschnitt starke Dehnungskräfte senkrecht zur Strömungsrichtung auf. Diese Dehnungskräfte bewirken, dass sich die Partikel umorientieren.

Die theoretischen Berechnungen wurden bestätigt durch Mikroröntgenexperimente bei DESY. Hier wurden an der Strahlungsquelle PETRA III hochintensive Röntgenstrahlen mit Durchmessern von nur zehn Mikrometern erzeugt. Mit Hilfe dieser fokussierten Strahlen war es erstmals möglich, das Strömungsverhalten in besonders dünnen Kapillaren zu beobachten. Die Wissenschaftler konnten präzise ermitteln, wie sich die Partikel ausrichten, wenn sie eine verengte Kapillare durchströmen. Die senkrechte Orientierung, die sie nach dem Passieren der engsten Stelle annehmen, ist stabil; sie ändert sich im weiteren Verlauf in der Kapillare nicht mehr.

Neue Erkenntnisse zur Herstellung von Hochleistungsfasern und zur Entstehung von Gefäßerkrankungen

Mikroskopische Abbildung einer Kapillare mit Verengung und einem folgenden, sich erweiternden Abschnitt. In den blauen Bereichen sind die Partikel parallel zur Strömungsrichtung orientiert, in den orange Bereichen senkrecht zur Strömungsorientierung.
Grafik: Lehrstuhl für Physikalische Chemie I, Universität Bayreuth; zur Veröffentlichung frei.
 

Die Umorientierung der Partikel beim Durchströmen enger Kapillarstellen ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis vieler biologischer und technischer Strömungsprozesse. Ein Beispiel ist der Vorgang des Spinnens. Dabei werden Lösungen von Makromolekülen und Partikeln durch feine Spinndüsen gepresst. Für die Herstellung von Fasern, die sich durch hohe Reißfestigkeit und andere gute mechanische Eigenschaften auszeichnen, ist es unbedingt erforderlich, dass die Makromoleküle und Partikel parallel zur Fließrichtung orientiert sind. Doch wie sich jetzt herausgestellt hat, sind sie beim Verlassen der Düse senkrecht zur Fließrichtung ausgerichtet. Dies erklärt die bereits seit langem bekannte Tatsache, dass gesponnene Fasern verstreckt werden müssen. Die Verstreckung bewirkt, dass die Makromoleküle und Partikel – als Bausteine der Fasern – erneut die gewünschte parallele Ausrichtung annehmen. Die in "PNAS" veröffentlichten neuen Erkenntnisse machen es möglich, die Strömungsorientierung dieser Bausteine vorherzusagen und durch ein entsprechendes Design von Kapillaren und Düsen genau zu kontrollieren.

Ein weiteres Anwendungsgebiet ist die Medizin, insofern Zellen und Proteine durch feinste Blutgefäße fließen. Wenn sie sich aufgrund von Gefäßverengungen umorientieren, kann dies eine Agglomeration bewirken: Die Folge sind eine Thrombose oder ein Gefäßverschluss. Möglicherweise hat die internationale Forschergruppe jetzt einen wichtigen Teilprozess entdeckt, der entscheidend zur Entstehung dieser Gefäßerkrankungen beiträgt.

Zu den Autoren des jetzt in den PNAS veröffentlichten Beitrags zählen Prof. Dr. Stephan Förster und Prof. Dr. Walter Zimmermann von der Universität Bayreuth sowie Dr. Julian Thiele von der Radboud University Nijmegen, Dr. Dagmar Steinhauser vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen und vom Deutschen Institut für Kautschuktechnologie e.V. in Hannover sowie Dr. Jan Perlich, Dr. Adeline Buffet und Dr. Stephan V. Roth von DESY in Hamburg. Das Projekt wurde von der EU über einen ERC Advanced Grant, der Prof. Dr. Stephan Förster im vergangenen Jahr zuerkannt worden war, sowie vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.


 

Originalveröffentlichung
"Anisotropic particles align perpendicular to the flow-direction in narrow microchannels"; Martin Trebbin, Dagmar Steinhauser, Jan Perlich, Adeline Buffet, Stephan V. Roth, Walter Zimmermann, Julian Thiele, Stephan Förster; "Proceedings of the National Academy of Sciences" (PNAS; 2013); DOI: 10.1073/pnas.1219340110

Wissenschaftliche Ansprechpartner
Prof. Dr. Stephan Förster
Lehrstuhl Physikalische Chemie I
Universität Bayreuth
D-95440 Bayreuth
Tel: +49 (0)921 / 55-2760
E-Mail (Sekr.): elisabeth.duengfelder@uni-bayreuth.de

Dr. Stephan V. Roth
DESY Photon Science
D-22603 Hamburg
Tel.: +49 40 8998-2934
E-Mail: stephan.roth@desy.de


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