Mit HERA auf dem Weg zur Vereinheitlichung der Naturkräfte

Robert Klanner und Ute Wilhelmsen, DESY, Notkestr 85, D-22607 Hamburg

Die Frage nach dem Ursprung und dem Wesen der Kräfte in der Natur beschäftigt und fasziniert seit jeher die Menschen. Fortschritte im Verständnis dieser Kräfte haben meist zu grundlegenden Änderungen unserer Vorstellung von Zeit, Raum und Materie geführt. Experimente am Speicherring HERA bei DESY haben eindrucksvoll gezeigt, dass zwei der grundlegenden Naturkräfte – die elektrische und die schwache Kraft – den gleichen Ursprung haben und nur verschiedene Erscheinungsformen einer Kraft sind. Dies bestätigt theoretische Vorhersagen der Teilchenphysik, die letztlich zur "großen Vereinheitlichung" der Grundkräfte der Natur führen sollten.

Vier fundamentale Kräfte sind uns bekannt: die Gravitation, die elektromagnetische, die schwache und die starke Kraft. Die Gravitation hält uns auf der Erde fest und bestimmt das Schicksal des Universums; die elektromagnetische Kraft verbindet Elektronen und Kerne zu Atomen; die schwache Kraft lässt die Sonne scheinen und die starke Kraft verbindet die Quarks im Proton sowie Protonen und Neutronen im Kern.

Bereits 1666 erkannte Isaac Newton, dass die gleiche Kraft, die den Apfel vom Baum fallen lässt, auch bewirkt, dass die Planeten um die Sonne, und der Mond um die Erde kreisen. Diese Erkenntnis revolutionierte das Verständnis von Raum und Zeit und damit das Weltbild. Ebenso grundlegend war die Entdeckung von Michael Faraday, dass die elektrische und die magnetische Kraft den gleichen Ursprung haben: Eine ruhende Ladung erzeugt ein elektrisches Feld. Bewegte Ladungen – also elektrischer Strom – erzeugen ein magnetisches Feld. Dieser fundamentale Zusammenhang wurde von James C. Maxwell in der Theorie des Elektromagnetismus zusammengefasst. Sie ist nicht nur ein Grundpfeiler der Speziellen Relativitätstheorie Albert Einsteins, sondern auch die Grundlage der Elektrotechnik in Radio, Fernsehen oder Handy.

Das moderne Bild der Kräfte wurde im zwanzigsten Jahrhundert entwickelt. Es basiert auf dem Feldbegriff, der Speziellen Relativitätstheorie und der Quantenmechanik. Ein Feld, wie das Schwerefeld der Erde, stellt einen Spannungszustand des Raumes dar, so dass auf Körper Kräfte ausgeübt werden. Die Relativitätstheorie erlaubt die Umwandlung von Energie in Materie, die Erzeugung und die Vernichtung von Teilchen und die Existenz von Antimaterie. Die Quantentheorie bedingt, dass höchste Energien notwendig sind, um Kräfte bei kleinsten Abständen zu untersuchen und erlaubt, dass kurzzeitig Energie- und Impulserhaltung verletzt werden können.

Kräfte werden durch den Austausch von Teilchen vermittelt – so wie sich zwei Tennisspieler abstoßen, wenn sie den Ball hin und her spielen, so stoßen sich auch zwei Elektronen ab, wenn sie Lichtteilchen, so genannte Photonen, austauschen. Die Teilchenphysiker haben verschiedene Austauschteilchen experimentell gefunden: acht Gluonen (Leimteilchen) für die starke Kraft, das Photon für die elektromagnetische Kraft und zwei geladene (W+ und W-) sowie ein ungeladenes (Z0) Teilchen für die schwache Kraft. Für die Schwerkraft ist das noch nicht beobachtete Graviton verantwortlich.

Abb. 1: Kräfte werden durch den Austausch von Teilchen vermittelt – in diesem Fall von einem Knochen, um den sich zwei Hunde streiten. In der Teilchenphysik sind verschiedene Austauschteilchen, Photonen, Gluonen, die W- und Z-Teilchen sowie das Graviton für die Vermittlung der grundlegenden Kräfte verantwortlich. (Illustration: George Gamov)

Daraus ergibt sich folgendes Bild von den Kräften: Die Austauschteilchen bilden das Kraftfeld, die Relativitätstheorie erlaubt ihre Erzeugung und die Quantenmechanik ermöglicht den Austausch. Sind die Teilchen masselos, wie das Photon und das Graviton, kann sich das Kraftfeld bis ins Unendliche ausbreiten. Dies ist beispielsweise bei der Schwerkraft der Fall. Sind die Austauschteilchen schwer wie die W- und Z-Teilchen, so kommen die Austauschteilchen nicht weit, und die Reichweite der Kräfte ist klein – im Fall der schwachen Wechselwirkung 100-millionenfach kleiner als ein Atom.

Allen vier Kräften ist eines gemeinsam: Ihre Eigenschaften folgen direkt aus dem ebenso eleganten wie unanschaulichen Prinzip der Eichinvarianz. Dies lässt vermuten, dass alle Kräfte den gleichen Ursprung haben und letztlich nur verschiedene Erscheinungsformen der gleichen Kraft sind. Für die elektrische und die schwache Kraft haben Sheldon Glashow, Abdus Salam und Steven Weinberg dies bereits 1967 theoretisch vorhergesagt.

Abb. 2: So sehen die "Ereignisse" aus, die im Detektor beobachtet werden, wenn ein Proton und ein Elektron im HERA-Ring aufeinander stoßen. Gemessen wird die Richtung der Spuren und die Energie der Teilchen.

a. "Geladene-Strom-Reaktion": Bei dieser Teilchenreaktion erfolgt der Kräfteaustausch über geladene Teilchen (W+- oder W--Teilchen), es entsteht ein Neutrino (n) sowie andere Teilchen. Die Häufigkeit, mit der diese Reaktion auftritt, ist ein Maß für die Stärke der schwachen Kraft.

b. "Neutrale-Strom-Reaktion": Bei dieser Teilchenreaktion erfolgt der Kräfteaustausch über neutrale Teilchen (Photon oder Z0-Boson), es entsteht ein Elektron (e) sowie andere Teilchen. Es treten die elektromagnetische und die schwache Kraft auf.

Die beiden Experimente H1 und ZEUS am Elektronen-Protonenspeicherring HERA bei DESY in Hamburg können diese theoretischen Vorhersagen eindrucksvoll demonstrieren. Bei HERA werden Elektronen und Protonen mit hoher Energie aufeinander geschossen. Dabei kommt es unter anderem zu folgenden beiden Teilchenreaktionen, deren Häufigkeit verglichen wird:

è "Elektron trifft auf Proton, daraus entsteht ein Neutrino sowie andere Teilchen." Das Neutrino ist elektrisch neutral, spürt ausschließlich die schwache Kraft und wird nur über das Austauschteilchen W erzeugt. Die Häufigkeit, mit der diese Reaktion auftritt, ist somit ein Maß für die Stärke der schwachen Kraft.

è "Elektron trifft auf Proton, daraus entsteht ein Elektron sowie andere Teilchen". Diese Reaktion wird sowohl durch das Photon als auch durch das Austauschteilchen Z vermittelt – es treten also die elektromagnetische und die schwache Kraft auf.

Abbildung 3 zeigt die Häufigkeit dieser beiden Teilchenreaktionen als Funktion des Minimalabstandes beim Stoß. Bei größeren Abständen tritt die elektromagnetische Reaktion wesentlich häufiger auf als die schwache, da die elektromagnetische Kraft bei diesen Abständen viel stärker als die schwache Kraft wirkt. Bei kleineren Abständen sind beide Reaktionen etwa gleich häufig, also beide Kräfte gleich stark – aus der Messung kann man also direkt die Vereinheitlichung der beiden Kräfte zur "elektro-schwachen" Kraft ablesen. Kräfte bei so kleinen Abständen können nur mit Teilchen höchster Energie, wie sie der HERA-Speicherring, liefert untersuchen werden.

Abb. 3: Häufigkeit der beiden Teilchenreaktionen (Abb. 2a und 2b) als Funktion des Minimalabstandes beim Stoß. Nach rechts hin werden die Abstände kleiner. Bei Abständen, die größer als die Reichweite der schwachen Kraft (2*10-18 m) sind, tritt die elektromagnetische Reaktion wesentlich häufiger auf, als die schwache. Bei kleineren Abständen sind beide Reaktionen etwa gleich häufig - aus der Messung kann man also direkt die elektroschwache Vereinheitlichung ablesen, wie sie auch theoretisch (die durchgezogenen Linien in der Abbildung) vorhergesagt wurde. Im unteren Teil der Abbildung ist der Weg der Vereinheitlichungen der vier Naturkräfte symbolisch dargestellt.

Auch für den nächsten Schritt auf dem Weg zur Vereinheitlichung aller vier Grundkräfte der Natur gibt es bereits erste Hinweise: Extrapoliert man die gemessene Stärke der elektro-schwachen und der starken Kraft zu winzigen Abständen, zeigt sich, dass sie bei dem unvorstellbar kleinen Wert von 10-29 m in etwa gleich stark werden. Zu solchen Abständen experimentell vordringen, könnten allerdings nur Teilchenbeschleuniger von der Größe unserer Milchstraße. Daher sind hier die Theoretiker gefragt. Der derzeit vielversprechendste theoretische Ansatz ist die Supersymmetrie. Sie sagt neue Teilchenfamilien voraus, deren Spuren wir in der nächsten Generation von Teilchenbeschleunigern finden könnten, beispielsweise dem Large Hadron Collider, LHC, einem Speicherring für Protonen am Forschungszentrum CERN in Genf oder TESLA, dem geplanten Linearbeschleuniger für Elektronen und Positronen bei DESY in Hamburg.

Ob die Supersymmetrie die richtige Antwort ist, ist nicht sicher – fest steht ist jedoch, dass auch der nächste Schritt bei der Vereinheitlichung der Kräfte unser Bild von Zeit, Raum und Materie grundlegend beeinflussen wird.