Teilchenbeschleuniger sind hochkomplexe Maschinen, gespickt mit Hightech und manchmal mehrere Kilometer lang. Um solche Rennmaschinen zu steuern, ist eine hochpräzise und schnelle Technik erforderlich, die viele Datensätze parallel verarbeiten kann. Die Systeme müssen mindestens zehn Jahre lang, 24 Stunden am Tag störungsfrei laufen, und wenn ein Netzgerät ausfällt, muss trotzdem alles weitergehen. Um Systeme für solche Anforderungen zu wappnen, haben sich in den vergangenen Jahrzehnten bestimmte Elektronikstandards etabliert: einheitliche Beschreibungen, anhand derer sich solche Systeme konstruieren lassen – mit selbstgebauten, aber auch zukaufbaren Komponenten.

Drei der existierenden Standards wären grundsätzlich auch für den Betrieb eines Teilchenbeschleunigers geeignet gewesen, sagt DESY-Beschleunigerexperte Holger Schlarb. Es gab nur ein Problem: „Keiner der Standards war am Ende geeignet, um mit DESY in die Zukunft zu gehen.“ Die Zukunft ist für DESY unter anderem der 3,4 Kilometer lange europäische Röntgenlaser European XFEL, dessen Hauptgesellschafter DESY ist und dessen Teilchenbeschleuniger DESY gebaut hat und betreibt. Daher haben Schlarb und sein Team einen neuen Industriestandard mitentwickelt und gemeinsam mit dem DESY-Technologietransfer zur Marktreife gebracht. Seit drei Jahren treiben Physiker und Technologietransfer die Kommerzialisierung und den Einsatz in der Industrie voran. Neuland nicht nur für die Forscher, sondern auch für DESY.

Um so weit zu kommen, nahmen sich die Forscher zunächst den Standard vor, der ihren Anforderungen am nächsten kam: MicroTCA (Micro Telecommunications Computing Architecture). „Dieser Industriestandard ist sehr weit verbreitet“, erläutert Schlarb. „Er kommt aus dem Telekommunikationsbereich und kann alles, was wir brauchen – bis auf eine Sache: feinste, analoge Daten erfassen.“ Das ist unerlässlich für die Forschung mit Teilchenbeschleunigern. Daher taten sich die DESY-Physiker mit anderen Instituten und Industriepartnern zusammen und erweiterten den Standard um die fehlende Funktion – die Möglichkeit, analoge Messaufgaben durchzuführen.

Einsatzmöglichkeiten in der Industrie


Der neue Industriestandard MicroTCA.4 wurde etabliert, und auf seiner Basis entwickelten die DESY-Wissenschaftler ein System von Steuerungsplatinen, das analoge und digitale Signale verarbeiten kann. Mehr als 100 Kenngrößen können so in Echtzeit mehrere hundert Millionen Mal pro Sekunde ausgelesen werden. Durch ein integriertes Managementsystem kann alles aus der Ferne bedient und gewartet werden. Noch dazu lässt sich das System von kleinsten Einheiten bis zu hochkomplexen Großanlagen nutzen – es ist skalierbar, wie die Elektronikprofis sagen.

Diese Funktionen machen den neuen Standard nicht nur für die Wissenschaft interessant. Auch in der Industrie gibt es zahlreiche Einsatzmöglichkeiten: Von der Telekommunikation, der Online-Inspektion, Luftfahrt, Medizintechnik bis hin zur Präzisionsmesstechnik. Daher stellten die Helmholtz-Gemeinschaft, DESY und Partner aus der Industrie 2012 vier Millionen Euro bereit, um die Kommerzialisierung und den Einsatz in Industrieunternehmen voranzutreiben. Ungewohntes Terrain für die Forscher: Seither gehen sie auf Messen, halten Workshops, treten als Consultants auf. „Wir wollen MicroTCA.4 in der Wissenschaftscommunity und in industriellen Märkten etablieren“, sagt Schlarb.

Die Investition in den neuen Standard zahlt sich schon jetzt aus: Ein Patent und 18 Lizenzverträge basieren auf dieser Entwicklungsarbeit. „So generieren wir Einnahmen und Rückflüsse und haben die Möglichkeit, Dinge weiterzuentwickeln“, sagt Michael Fenner, Entwicklungsingenieur bei DESY. Und auch wenn es den Forschern selbst viel zu langsam geht, attestiert Branchenkenner Heiko Körte der Technik eine vielversprechende Zukunft. „MicroTCA.4 setzen wir als Basisstandard schon jetzt sehr erfolgreich in einer ganzen Reihe von Projekten ein“, sagt der Direktor Sales & Marketing vom Systemhersteller N.A.T. aus Bonn. Beispielsweise in der Verkehrsleittechnik und in diversen Funkanwendungen im Fest- und Mobilnetz. Auch in der Medizintechnik und im Katastrophenmanagement könnte die Technik zukünftig immer wichtiger werden.

Tendenz steigend


„Wenn beispielsweise nach Erdbeben mobile Basisstationen für den Mobilfunk errichtet werden müssen, oder in infrastrukturschwachen Regionen der Welt Mobilfunkstationen aufgebaut werden sollen, ist dieser Standard der Richtige“, sagt Körte. „Der Standard MicroTCA hat in den vergangenen acht Jahren eine beachtliche Erfolgsgeschichte hingelegt.“ Den Marktanteil von MicroTCA an neuen Anwendungen im direkten Vergleich mit den Standards VME, Compact PCI und VPX schätzt er mittlerweile auf 30 bis 35 Prozent. Eine Marktanalyse aus dem Jahr 2014 bezifferte das jährliche Wachstum auf 9 Prozent. MicroTCA.4 ist ein Teil davon.

N.A.T. war nicht nur ein maßgeblicher Industriepartner bei der Entwicklung von MicroTCA, das Bonner Unternehmen hat bereits zu 85 Prozent auf diesen Standard umgestellt, 12 Prozent davon sind Produkte auf der Basis von MicroTCA.4 – Tendenz steigend. Körte ist optimistisch, was die Etablierung des neuen Standards auf dem Markt angeht. Die Firmen bräuchten naturgemäß etwas Zeit um sich mit dem neuen Standard und seinen Anwendungsmöglichkeiten vertraut zu machen. „Das ist ein Übergangsprozess“, sagt er. „Das wird noch ein paar Jahre dauern, aber nicht mehr zehn.“

Aus: „femto - Das DESY-Forschungsmagazin“, Ausgabe 1/2016