DESY News: Springende Kristalle erzeugen Schallwellen

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14.06.2017
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Springende Kristalle erzeugen Schallwellen

Organische Kristalle verhalten sich wie Stahl

Thermosaliente Kristalle faszinieren Wissenschaftler schon länger: Auf einer Heizplatte springen die unscheinbaren Kristalle plötzlich von selbst um ein Vielfaches ihrer Länge in die Höhe. Für die abrupte Bewegung ist eine Änderung der Struktur der Kristalle verantwortlich. Weil die Veränderung so schnell passiert, kann man sie nur schwer genauer untersuchen. Forscher haben jetzt mit einem neuen Verfahren entdeckt, dass die Kristalle kurz vor der Strukturänderung eine Schallwelle ausstoßen, durch deren Untersuchung die Wissenschaftler mehr über den spannenden Phasenübergang herausfinden konnten. Zusätzlich haben sie bei DESY die Veränderung der Kristallstruktur genauestens untersucht. Das internationale Forscherteam um Panče Naumov von der New York University Abu Dhabi in den Vereinigten Arabischen Emiraten präsentiert die Ergebnisse im Fachblatt „Angewandte Chemie“.

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Strukturänderung in einem thermosalienten Kristall: Beim Erhitzen ändert sich die Position der Atome von rot zu grün. Bild: Manas K. Panda/Panče Naumov, New York University Abu Dhabi
Thermosaliente Kristalle bestehen wie alle Kristalle aus einer regelmäßigen Struktur von Molekülen. Wenn die Kristalle über eine bestimmte Temperatur erhitzt (oder abgekühlt) werden, verändert sich die Struktur, Forscher nennen das einen Phasenübergang. Die Moleküle verändern ihre Position dabei zwar nur ganz leicht, das passiert aber sehr schnell. „Von einem Punkt aus, an dem der Übergang beginnt, breitet sich die neue Phase fast stoßwellenförmig im ganzen Kristall aus“, erklärt DESY-Forscher Martin Etter, der als Ko-Autor an der Untersuchung beteiligt war. „Durch diese Stoßwelle setzt sich der Kristall von selbst in Bewegung und springt sogar.“ Die während des Erhitzens angestaute Energie wird auf einen Schlag freigesetzt.

Die Forscher konnten jetzt mit einem neu entwickelten Verfahren zum ersten Mal zeigen, dass die Kristalle kurz vor dem Phasenübergang Schallwellen ausstoßen. Beim Erhitzen und Abkühlen eines bestimmten thermosalienten Kristalls konnten sie im Bereich der Übergangstemperatur (ungefähr 65 bis 67 Grad Celsius beim Erhitzen und 55 bis 53 Grad beim Abkühlen) mehrere Wellen im Ultraschallbereich messen. Normalerweise ist es schwierig, den Übergang genauer zu untersuchen, weil er so schnell passiert. Die Schallwellen bieten aber die Möglichkeit, indirekt verschiedene Eigenschaften zu analysieren. So kann man beispielsweise genauer auf die Geschwindigkeit des Phasenübergangs im Kristall schließen. Die neue Phase breitet sich mit einer Geschwindigkeit von 2,8 Metern pro Sekunde (also ungefähr 10 Kilometer pro Stunde) im Kristall aus. Mit dem neuen Verfahren kann man die einzelnen Ereignisse während des Übergangs deutlich besser nachvollziehen als mit anderen Methoden.

Prinzip des Versuchs: Wenn der Kristall (links) seine innere Struktur ändert, lässt sich eine charakteristische Schallwelle messen (rechts), die sich in dem Material ausbreitet. Bild: Manas K. Panda/Panče Naumov, New York University Abu Dhabi
Um mehr über die Veränderung der Kristallstruktur herauszufinden, untersuchten die Forscher die Kristalle zusätzlich an der Messstation P02.1 von DESYs Röntgenlichtquelle PETRA III. „Wenn man Pulver aus den Kristallen während des Phasenübergangs mit Röntgenlicht bestrahlt, kann man durch die Röntgenreflexe ganz genau messen, wie sich die Strukturen verschieben“, sagt Etter. „So konnten wir sehen, bei welcher Temperatur der Übergang genau stattfindet und dass sich die Positionen der Moleküle nur überraschend wenig verändern.“

Dem Phasenübergang und der folgenden Bewegung der Kristalle liegt ein spannender Prozess zugrunde: Thermische Energie, also Wärme, wird in mechanische Bewegungsenergie umgewandelt. Diese Energiekonversion in den Kristallen könnte für verschiedene Anwendungsfelder interessant sein. „Solche Materialien könnten später vielleicht für Temperatursensoren verwendet werden. Der Phasenübergang findet ja immer bei einer ganz bestimmten Temperatur statt, bei der der Sensor dann sozusagen umspringt“, erklärt Etter. „Eine weitere vorstellbare Anwendung liegt in der Umwandlung von Wärme in Strom. Davon sind wir aber noch weit entfernt.“

Die Forscher beschäftigen sich noch aus einem anderen Grund so genau mit den Kristallen. Denn der Phasenübergang läuft genauso ab wie ein Prozess, den man vor allem aus metallischen Materialien kennt. Der sogenannte martensitische Übergang, der beim Abkühlen von Stahl oder bestimmten anderen Legierungen stattfindet, weist die gleichen Eigenschaften auf wie der Übergang in den organischen, also auf Kohlenstoffverbindungen basierenden Kristallen. Die Messung der Schallwellen war auch als weiterer Test der Ähnlichkeit zwischen beiden Übergängen gedacht. Denn auch beim martensitischen Übergang treten solche Wellen auf. Das Ergebnis ist daher ein experimenteller Beleg dafür, dass die thermosalienten Kristalle ein organisches Gegenstück zu den Martensiten sind und dass sich organische Festkörper damit ähnlich wie Metalle und Legierungen verhalten können.

An der Arbeit war auch das Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart beteiligt.

Originalarbeit:
“Acoustic Emission from Organic Martensites”; Manas K. Panda, Martin Etter, Robert E. Dinnebier, Panče Naumov; „Angewandte Chemie International Edition“, 2017; DOI: 10.1002/ange.201702359